Vielleicht hast du auch schon davon gehört, dass Kinder ihre Eltern spiegeln. Wie ist das gemeint? Was können wir vom Verhalten unserer Kinder ablesen? Inwiefern kann das „nervige“ Verhalten der Kinder bei unserem persönlichen Wachstum helfen?
Spiegeln als soziale Interaktion
Wir Menschen sind soziale Wesen. In der Steinzeit wären wir ohne den Schutz der Gemeinschaft in akuter Lebensgefahr gewesen. Deswegen verspüren wir instinktiv das Bedürfnis nach Verbundenheit mit anderen Menschen. Wir wollen mit ihnen in Beziehung treten und dazugehören.
Ein wichtiges Werkzeug dafür ist das Spiegeln. Wenn wir jemanden mögen, dann spiegeln wir ihn unbewusst. Wir machen die Bewegungen, die Körperhaltung und den Tonfall nach.
Sicher kennst du das Phänomen, dass Gähnen und Lächeln ansteckend wirken können. Wenn uns jemand in dieser Weise nachahmt, finden wir ihn wiederum sympathisch und vertrauenserweckend.
Wenn uns ein Freund von seinen Erfahrungen und Gefühlen erzählt, spiegeln wir ihm durch unsere Worte, aber auch durch Gestik und Mimik, dass wir sein Erleben verstehen und mitfühlen können. Dadurch fühlen wir uns einander Nahe.
Co-Regulation durch Spiegeln
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Babys und Kleinkinder beruhigen sich in erster Linie durch die Co-Regulation eines Erwachsenen. D. h. der Erwachsene spiegelt durch seine Worte, seinen Tonfall, seine Gestik und Mimik den Kummer, den Ärger oder die Verzweiflung des Kindes. Das Kind fühlt sich in seinem Erleben verstanden und angenommen.
Gleichzeitig lässt sich der Erwachsene nicht vom Stress des Kindes anstecken. Im Gegenteil – er strahlt Akzeptanz, Ruhe und Sicherheit aus. Das wiederum färbt sich auf das Kind ab, sodass es sich bald wieder beruhigt. Man könnte sagen, es spiegelt dann die Ruhe des Erwachsenen.
Natürlich ist es auch eine beliebte Strategie bei älteren Kindern und Erwachsenen, sich durch Mitmenschen bei der Gefühlsregulation helfen zu lassen. Sie steht dann nur nicht mehr so sehr im Vordergrund wie bei den ganz kleinen Kindern.
Auch uns Erwachsene beruhigt es, wenn wir aufwühlende Erlebnisse bei einer Tasse Tee mit einer guten Freundin teilen können, sie uns versteht und Mitgefühl zeigt. Wenn wir nicht bewertet, uns keine Lösungen für das Problem oder "gutmeinte" Ratschläge präsentiert werden, sondern einfach jemand da ist, uns zuhört und versteht, geht es uns danach immer besser.
Nachahmung in der Kindheit
In der Eltern-Kind-Beziehung beginnt es bereits nach der Geburt, dass Eltern und ihr Säugling wechselseitig Mimik, Gestik und Laute nachahmen. Eltern machen das meist automatisch und unbewusst, sogar sehr übertrieben, um die Aufmerksamkeit des kleinen Kindes zu gewinnen. Dieses Verhalten schafft Nähe und stärkt die Eltern-Kind-Bindung.
Durch Nachahmung lernen Kinder. Zurzeit sind wir in der Familie immer wieder verblüfft, wie gut der Zweijährige uns nachahmt. Dabei scheint die Regel zu gelten: je emotionaler, desto nachahmenswerter.
Manchmal baut er sich zum Beispiel vor unserer Ältesten auf – die eine Hand in die Seite gestemmt, die andere mit drohendem Zeigefinger erhoben – und herrscht sie in scharfem Tonfall an: „Hör sofort auf damit, ich bin so sauer!“
Auch wenn dann alle lächeln müssen, fühle ich mich unheimlich ertappt und denke: "Wow, er spiegelt mich!“.
Wirke ich so etwa auf meine Kinder?!
Aber auch ältere Kinder nehmen Verhaltensweisen von Eltern in verschiedenen Lebenssituation wahr, saugen diese wie ein Schwamm auf und probieren die Strategien dann in ähnlichen Situationen aus.
So kommt es, dass Eltern, die ihre Kinder in Auseinandersetzungen anschreien, auch häufig ein weiteres „Problem“ haben. Ihre Kinder schreien nämlich wiederum sie oder ihre Geschwister an, wenn sie aus irgendeinem Grund gestresst sind. Unbewusst haben die Kinder gelernt, dass dies in ihrer Familie das Standardverhalten in Stresssituationen ist.
Auch wenn Eltern sich von ihrem Kind herumkommandiert fühlen, dürfen sie sich gerne einmal selbst beobachten. Eventuell kommen entsprechende Wörter und ein bestimmender Tonfall in anderen Situationen auch aus ihrem Munde.
Vielleicht sagen wir Eltern häufig am Tag zum Kind im Befehlston Sätze wie „Zieh deine Schuhe an!“, „Räum jetzt das Spielzeug da in die Kiste“ oder „Warte hier mit deinen Straßenschuhen, während ich deinen kleinen Bruder anziehe“.
Und irgendwie finden wir es dann unverschämt, wenn das Kind zu uns sagt „Gib mir Wasser“, „Nein, nicht da, setz dich hierhin, Mama“ oder „Hol mir mein Spielzeug her“. Dabei ahmt uns das Kind nur nach.
Aber Lena, mein Kind benimmt sich ganz anders, als ich das vorlebe!
Wenn Eltern das Gegenteil des ruhenden Pols sind
Wenn aufgeregte Kinder sich durch die Ruhe der Eltern beruhigen lassen, so lassen sie sich umgekehrt auch durch Stress und Unruhe der Eltern beunruhigen.
Es kann sein, dass die Eltern sich nach außen hin gefasst zeigen, innerlich aber aufgeregt, gestresst, ängstlich oder wütend sind. Die Kinder bringen das dann durch ihr Verhalten zum Vorschein.
Hierfür lassen sich unzählige Beispiele finden.
Wenn die Beziehung der Eltern kriselt, wollen diese die Kinder damit oft nicht belasten und den Konflikt nicht offen vor ihren Augen austragen. Die Kinder nehmen die Anspannung in der Familie dennoch wahr. Und diese zeigt sich im unausgeglichenen, vielleicht aggressiven Verhalten der Kinder.
Oder vielleicht kennst du es auch, dass Kinder sich ausgerechnet dann unglaublich „anstrengend“ verhalten, wenn die Eltern dringend eine Pause bräuchten, vielleicht krank, hundemüde oder einfach ausgepowert sind.
Die Kinder spüren das. Sie sind gestresst und verängstigt, weil sie ja instinktiv wissen, dass sie auf ihre Bezugsperson angewiesen sind. Sie versuchen dann verstärkt, die Aufmerksamkeit der Mutter oder des Vaters zu gewinnen. Wie nervige, emotionale kleine Kletten, kommen sie einem vor.
Aber sie drücken so einfach ihr inneres Unbehagen aus.
Wenn eine Mutter sich sehr unsicher ist, ob es das „richtige“ ist, das eigene Kind in diesen Kindergarten einzugewöhnen, dann kann das Kind auch das nach außen hin ausleben, indem es sich weigert, in diesem Kindergarten zu bleiben. Es fühlt sich dort nicht sicher, wenn es der Mutter offensichtlich auch nicht behagt. Deswegen kann es in solchen Fällen oft Wunder bewirken, wenn eine andere Person, die nicht diese inneren Vorbehalte hat, übernimmt.
Oft berichten mir Eltern, dass abends beim Zu-Bett-bringen der Kinder, ihre Akkus endgültig alle sind. Sie geben ihr Bestes, beißen die Zähne zusammen und geben sich den Kindern gegenüber weiterhin freundlich. Ausgerechnet dann drehen die Kinder häufig so richtig auf, widersetzen sich, erleben extreme emotionale Ausbrüche. Häufig genug knallt es an solchen Abenden in der Familie und es wird viel geschrien und geweint, bis das Kind endlich eingeschlafen ist.
Es scheint so, als stimme einfach irgendwas mit dem Kind nicht.
Jedoch sind wahre Wunder zu erwarten, wenn es den Eltern gelingt, sich vor diesem kritischen Tagesabschnitt so zu stärken, dass sie ihre Kinder mit echter innerer Ruhe und Gelassenheit begleiten können. Auch die Kinder scheinen dann nämlich wie ausgewechselt.
Die Kinder drücken in all diesen Beispielen die Gefühlslage ihrer Eltern durch ihr Verhalten aus.
Wenn du dich also nächstes Mal fragst, warum dein Kind sich ausgerechnet heute so „daneben“ benimmt, darfst du mal innehalten und in dich hineinspüren, wie es DIR eigentlich geht.
Spiegelt es gerade dein Befinden? Was kannst du dann jetzt für dich tun, um dich selbst aufzupäppeln? Was brauchst du jetzt? Diese Selbstfürsorge kommt der ganzen Familienatmosphäre zugute.
Was für akute unterdrückte Gefühle gilt, kann aber auch für sehr einseitig gelebte Werte, Verhaltensweisen, Lebensregeln usw. gelten. Hier wird der Blick auf das Verhalten unserer Kinder besonders spannend, weil uns diese Muster in der Regel selbst nicht bewusst sind.
Hilfe, mein Kind ist das Gegenteil von mir!
Manchmal beobachten die Kinder auch unsere Verhaltensstrategien, und haben dabei das Gefühl, dass sie damit nichts zu tun haben wollen, weil es sich nicht gut anfühlt.
Dann kann es sein, dass das Kind uns spiegelverkehrt spiegelt, also entgegengesetzte Verhaltensweisen vorzieht.
Wenn Mama zum Beispiel täglich die Wohnung aufräumt und dabei motzend vor sich hin murmelt: „Oh man, jetzt bin ich wieder der Depp vom Dienst und räume alleine auf. Keiner hilft mir. Ich hasse das alles.“ Dann macht ein Kind vielleicht automatisch einen ganz großen Bogen ums Aufräumen.
Es kann auch sein, dass dein Kind dich dabei beobachtet, wie du niemals "Nein" sagst und ständig deine eigenen Grenzen übergehst. Du sagst zum Beispiel: „Ja, na klar backe ich für den Kuchenverkauf morgen“, obwohl du weder Zeit noch Lust dazu hast.
Du sagst: „Na klar lege ich am Abend für das Spezialprojekt des Chefs noch eine Sonderschicht ein“, obwohl du total erschöpft bist.
Und du sagst: „Na klar spiele ich dieses Kartenspiel auch noch ein zehntes Mal mit dir, mein Schatz“, auch wenn innerlich der Widerwille brodelt.
So kann es dazu führen, dass dein Kind sich gegen deine Strategie des Ja-Sagens entscheidet. Stattdessen sagt es zu allem und jedem Nein. Die Erfüllung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse gehen ihm über alles. Die Rücksicht auf andere scheint ihm ganz fremd zu sein.
Dabei lebst du ihm doch das Gegenteil vor!
Wenn dich das Verhalten deines Kindes triggert
Häufig sind es genau diese Verhaltensweisen unserer Kinder, die so gegenteilig zu unseren eigenen Strategien sind, die uns zur Weißglut treiben.
Was lümmelt der Teenager nur den ganzen Tag auf der Couch rum, während ich den ganzen Tag am Machen und Tun bin, und kaum Zeit finde, mal aufs Klo zu gehen?
Warum kommandiert uns das Kleinkind so herrisch herum, wo wir Eltern es doch auf Händen tragen?
Wie kann es sein, dass das Schulkind morgens nur herumtrödelt, statt sich fertig zu machen und zur Schule zu eilen? Und das, obwohl mir Pünktlichkeit doch so unglaublich wichtig ist?
Es kann sein, dass wir eigentlich gerade super entspannt sind, aber plötzlich bringt ein ganz bestimmtes Verhalten unseres Kindes uns auf die Palme.
Dein Kind zeigt dir deine blinden Flecken
Ja, jetzt weißt du, du bist nicht die Einzige, die von jetzt auf gleich an die Decke geht, wenn das Kind sich einfach nicht so verhält, wie du es von ihm erwartest. Und was sollst du jetzt damit anfangen?
Dein Kind wählt nicht nur manchmal die gegenteilige Strategie aus, um mit seinen eigenen Herausforderungen umzugehen. Zusätzlich versetzt dich genau das unverhältnismäßig stark in emotionale Not.
Wenn du zum Beispiel ein besonders ordentlicher und strebsamer Mensch bist, dann hat das wahrscheinlich seine Gründe. Und die liegen in der Regel in deiner Kindheit. Es könnte sein, dass du Angst hattest, von deinen Eltern abgelehnt zu werden, wenn du in dieser Hinsicht nicht ihren Ansprüchen entsprichst.
Dann hat dich das ordentliche, strebsame Verhalten als Kind vor der beängstigenden Gefahr geschützt, die Liebe und Zuneigung deiner Eltern zu verlieren. Du hast vermutlich diese Verhaltensstrategie in deinem Leben auch weiterhin gezeigt. Und damit bist du gefühlt immer gut gefahren.
Die Lehrer mochten dich, die Arbeitgeber und Kollegen schätzten dich und dein Mann findet es auch toll, dass du auf diese Weise alles, was die Familienorganisation betrifft, verlässlich im Griff hast.
Jetzt ist dein Kind vielleicht total chaotisch und ihm scheint jeglicher Ehrgeiz zu fehlen. Dann fühlst du mehr als nur die Sorge, dass dein Kind vielleicht zu oft den Turnbeutel vergisst oder seine Zeugnisse „zu schlecht“ sein könnten.
Was du fühlst, ist eher eine Mischung aus rasender Wut, Ohnmacht und Angst.
Deine Gefühle sind völlig unverhältnismäßig stark. Du gerätst bei diesem Thema immer wieder so sehr in Stress, dass du einfach nicht anders kannst, als zum Beispiel zu schimpfen, zu drohen, zu erpressen. Und das, obwohl du so eine Mama ganz bestimmt nicht sein möchtest.
Diese starken Gefühle sind so eine Art Flashback in deine Kindheit. Es sind die für ein Kind so bedrohlichen Gefühle des Abgelehntwerdens von wichtigen Bezugspersonen, die da in dir hochkommen.
Gefühlt geht es hier für dich um Leben und Tod. Wenn dein Kind nicht nach deinen so sicheren Lebensregeln lebt, dann fühlt es sich für dich nach Lebensgefahr an. Und genauso reagierst du auch. Würde unser Kind auf die Straße rennen, würden wir es schließlich auch mit allen Mitteln davon abhalten, ob es ihm nun recht ist oder nicht.
Und was hab ich jetzt davon?
Wenn du herausfindest, welche Verhaltensweisen deines Kindes dich triggern und welche Geschichte aus deinem eigenen Leben dahintersteckt, kannst du dein Bewusstsein auf diese Verhaltensregeln richten.
Tun sie dir nur gut? Oder lebst du sie sehr einseitig und unflexibel, um nur ja auf der „sicheren“ Seite zu bleiben?
Vielleicht hat dich dein extrem ordentliches und strebsames Verhalten schonmal an den Rand des Burnouts getrieben? Vielleicht würde es dir guttun, wenn du selbst öfter mal fünfe gerade sein lassen könntest?
Oder vielleicht hast du dich so sehr an von außen vorgegebenen Zielen und Werten ausgerichtet, dass du das Gefühl für dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse und Interessen aus den Augen verloren hast?
In der Regel kann es unser Leben nur bereichern, wenn wir uns eine Scheibe von dem abschneiden, was wir an anderen so gar nicht ausstehen können.
Und zwar geht es darum, herauszufinden, was diese so verhasste Eigenschaft für uns im Positiven bedeuten könnte. Oder was ein gesundes Mittelmaß zwischen den beiden extremen Polen für uns sein könnte.
Wenn es uns gelingt, das Positive an den Strategien unserer Kinder zu sehen und davon dann mehr in unser eigenes Leben zu lassen, wird das Kind auch nicht mehr so sehr in die Opposition gedrängt. Es kann selbst bei diesem Thema etwas loslassen und sich eher zur gesunden Mitte hin orientieren.
Die Veränderung findet erstmal nur in deinem Inneren statt, in deiner Haltung. Und doch kann es sich so wohltuend auf die ganze Familienatmosphäre auswirken.
Wie geht es dir mit dem Thema Spiegeln? Konntest du reflektieren, wie bzw. in welchen Situationen dein Kind dich spiegelt? Ich freue mich, wenn du mir in einem Kommentar davon erzählen magst!
Liebe Lena
Was für ein toller Artikel! Ich glaube, ich beginne zu verstehen… Hier die Verweigerung meines einen Sohnes, da die Aggression des anderen…
Nun kam mir noch der Gedanke: Welches Verhalten ist ein Spiegel für mich, welches ein Spiegel für den Papa der Kinder? Ich werde weiter forschen und beobachten.
Herzlichen Dank für deine hilfreiche Arbeit!
Liebe Grüsse
Sabine
Liebe Sabine,
herzlichen Dank für diese Rückmeldung! Ich freue mich sehr, wenn ich dir hilfreiche Impulse geben konnte.
Alles Liebe
Lena