Gefällt dir der Umgangston in deiner Familie?
Würdest du selbst gern weniger nörgeln, jammern, mahnen, schimpfen und schreien und dafür mehr unterstützen, respektieren, verstehen, nachfragen, ermutigen und vermitteln?
Es ist erstaunlich: Du hast den Wunsch, mit deinen Kindern oder mit deinem Partner wertschätzender zu kommunizieren. Doch genau an diesem Vorhaben scheiterst du trotz aller Entschlossenheit regelmäßig. Sobald du dich gestresst und verärgert fühlst, sind die guten Vorsätze wie weggeblasen und du greifst „automatisch“ auf deine alten Verhaltensmuster zurück.
Hinterher tut es dir leid und du hast ein schlechtes Gewissen. Dich beschleicht das Gefühl, eine „schlechte“ Mutter oder Lebensgefährtin zu sein.
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Ein Wunsch allein bringt keine Veränderung
Möchtest du die Kommunikation in deiner Familie ernsthaft umstellen, nachhaltig Kooperationsbereitschaft und gegenseitiges Einfühlungsvermögen stärken? Dann gibt es keine einfache Lösung!
Nehmen wir an, du hast seit Jahren keinen Sport mehr getrieben. Das möchtest du jetzt ändern und nimmst dir daher vor, einen Marathon zu laufen.
Du ziehst dir deine Sportsachen an, gehst vor die Tür und versuchst den Marathon zu laufen. Was wird passieren? Vermutlich wirst du kläglich scheitern. Schon nach wenigen Minuten geht dir die Puste aus. Du gehst zurück ins Haus und fühlst dich schlecht. Am nächsten und am übernächsten Tag versuchst du es vielleicht noch einmal, aber es ergeht dir nicht besser als bei deinem ersten Anlauf.
Was kannst du tun? Du brauchst einen Plan, mit dem du in kleinen Schritten auf deinen ersten Marathon hinarbeitest. Vielleicht gehst du die ersten Male nur flott spazieren und baust dann nach und nach kleine, langsame Läufe in dein Training ein. Du steigerst dein Pensum kontinuierlich und am Ende ist der Marathon kein Hexenwerk mehr. Es ist harte Arbeit, bis du dein Ziel erreichst, aber du kannst es schaffen.
Genauso wenig, wie wir von heute auf morgen einen Marathon laufen können, können wir nur durch einen frommen Wunsch unser gesamtes kommunikatives Verhalten über Nacht verändern.
Wir benötigen einen Plan, es ist harte Arbeit und es braucht viel Zeit. Wer die Geduld aufbringt, kann den Umgangston in der Familie nachhaltig ändern.
Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg
Bei der Suche nach einer Methode, die mir und anderen helfen könnte, das Kommunikations- und Konfliktlösungsverhalten in der Familie zu verbessern, bin ich auf das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) gestoßen.
Die GFK kann die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und damit auch die Kooperationsbereitschaft untereinander stärken, da sie bei der Konfliktlösung die Bedürfnisse jedes einzelnen in den Mittelpunkt stellt.
Die Methode basiert darauf, einander aktiv zuzuhören, sich gegenseitig respektvoll und empathisch zu begegnen. Es wird darauf verzichtet, andere zu beurteilen oder Macht auszuüben.
GFK dient allerdings nicht dazu, die Kinder oder den Partner dazu zu bringen, das zu tun, was man möchte. Stattdessen fördert die GFK eine Beziehung auf Augenhöhe.
Folgende Formen der Kommunikation schaden nach Ansicht der GFK zwischenmenschlichen Beziehungen mehr, als das sie nützen. Sie sollten deshalb nicht Teil einer GFK sein.
Moralische Urteile
Es ist nicht förderlich, anderen zu unterstellen, dass sie „schlecht“ seien, wenn sie sich nicht unseren Wünschen gemäß verhalten. Unsere Kommunikation beruht dann darauf, das Gegenüber zu verurteilen: „Du bist gemein!“, „Sei nicht so egoistisch“, „Das war wirklich böse von dir“ oder „Wie kannst du nur so unordentlich sein?“
Wenn wir in Kategorien von „gut“ und „schlecht“ denken, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, jemanden für „schlechtes“ Verhalten mit Gewalt zu bestrafen, da wir meinen, „objektiv“ im Recht zu sein.
Diese Art zu denken, ignoriert die Motive des Beurteilten, verleugnet die Bedürfnisse des Urteilenden und verhindert gegenseitiges Einfühlungsvermögen.
Vergleichen
„Die kleine Lisa weint doch auch nicht, wenn ich ihr die Haare wasche.“, „Deine Schwester schafft es doch auch, Ordnung zu halten.“, „Jana hat friedlich gespielt und du gehst immer auf sie los!“
Auch das Anstellen von Vergleichen ist eine Form der Verurteilung, die jegliches Einfühlungsvermögen blockiert.
Verantwortung leugnen
„Leo, wenn du dich so aufführst, muss ich dich in dein Zimmer schicken. Du bist selbst schuld, ich hab dich ja gewarnt.“
Es ist sehr bequem, die Verantwortung für seine eigenen Entscheidungen zu leugnen.
Manches mal machen wir vage Mächte für unser Handeln verantwortlich („Das macht man halt so“), mal die Umstände („Ich schreie meine Kinder an, weil ich immer gestresst bin“), mal den Gruppenzwang („Alle meine Freunde machen das auch so“) und mal institutionelle Vorschriften („Wer zweimal stört fliegt raus, so sind nun mal die Regeln“).
Wenn wir nicht mehr moralisch urteilen, vergleichen und unsere Verantwortung verstecken wollen – was können wir stattdessen tun?
Die vier Komponenten des GFK-Modells
1. Beobachtungen
Im ersten Schritt konzentrieren wir uns nur auf unsere Beobachtungen. Was sehen wir, was andere tun? Was hören wir, was andere sagen? Die Herausforderung besteht darin, unsere Beobachtungen dem anderen mitzuteilen, ohne sie gleichzeitig zu beurteilen oder zu bewerten.
Sobald wir unsere Beobachtungen mit einer Bewertung mischen, vermindern wir die Wahrscheinlichkeit, dass andere das hören, was wir sagen wollen. Sie fühlen sich kritisiert und wollen sich dagegen wehren.
Statt zu werten „Anton, du bist so unordentlich. Immer fliegen deine Sachen in der ganzen Wohnung rum. Räum sofort auf!“ sollten wir in einem ersten Schritt nur beschreiben, was wir beobachten: „Anton, deine Strümpfe liegen im Wohnzimmer unter dem Sofa, deine Schulhefte sind auf dem Esstisch ausgebreitet und dein schmutziges Fußballtrikot liegt auf dem Badezimmerboden.“
2. Gefühle
Danach sprechen wir aus, welche Gefühle diese Beobachtungen bei uns auslösen. Fühlen wir uns verletzt, traurig, erschrocken, irritiert, usw.?
Oft fällt uns das nicht leicht. Viele von uns sind es nicht gewohnt, sich ihrer eigenen Gefühle bewusst zu werden und diese auch auszudrücken. Uns wurde in der Kindheit vermittelt, Gefühle solle man besser für sich behalten. Vor allem sollten die eigenen Schwächen verborgen bleiben („Ein Indianer kennt keinen Schmerz“).
Deshalb mangelt es vielen von uns auch am Wortschatz, um unsere Gefühle zu benennen.
Manchmal äußern wir uns, als ob wir unsere Gefühle aussprechen, obwohl wir eigentlich eine Situation oder das Verhalten anderer interpretieren („Ich habe das Gefühl, keiner hilft mir“, „Ich fühle mich missverstanden“ oder „Ich fühle mich wertlos“).
Stattdessen sollten wir unsere Gefühle so klar und deutlich wie möglich beschreiben: „Wenn ich sehe, dass deine Sachen nicht aufgeräumt sind, ärgert mich das.“
Je spezifischer wir unsere Gefühle benennen, desto leichter kann sich unser Gegenüber in uns einfühlen. Falls du dich im Ausdruck deiner Gefühle schulen möchtest biete ich dir als Bonus zu diesem Artikel eine PDF-Datei zum Download an, das dir Hilfestellungen zum Thema GFK liefert – unter anderem eine Sammlung von 150 Wörtern, um negative Gefühlszustände zu beschreiben.
3. Bedürfnisse
In einem nächsten Schritt verbalisieren wir unsere Bedürfnisse, die hinter den genannten Gefühlen stehen.
Indem wir das tun, zeigen wir uns selbst für unsere Gefühle verantwortlich. Wir akzeptieren damit die Tatsache, dass das, was andere sagen oder tun, nicht die Ursache, sondern deren Auslöser für unsere (negativen) Gefühle bildet. Die Gefühle entstehen dadurch, dass wir eine Situation in einem bestimmten Sinne interpretieren („Das Zimmer ist ganz unaufgeräumt“) und damit zugleich unsere Bedürfnisse und Erwartungen einbringen („Mein Kind sollte von sich aus mehr Ordnung halten“).
Wenn wir unsere Bedürfnisse nur indirekt ausdrücken, indem wir interpretieren und bewerten, wird sich unser Gegenüber schnell kritisiert fühlen, sich in eine Verteidigungsposition begeben oder aggressiv reagieren.
Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir unsere Gefühle so direkt wie möglich mit unseren Bedürfnissen in Verbindung bringen. Es verhindert, dass sich unser Gegenüber angegriffen fühlt und erleichtert es diesem, einfühlsam zu reagieren.
In unserem Beispiel: „Wenn ich sehe, dass deine Sachen nicht aufgeräumt sind, ärgert mich das. Denn ich fühle mich zu Hause nur wohl, wenn es ordentlich aussieht.“
Wenn du Anregungen suchst, wie du deine Bedürfnisse angemessen benennen kannst, findest du in meiner Bonus-PDF-Datei zu diesem Post 70 Beispiele für typische menschliche Bedürfnisse.
4. Bitten
Nachdem wir unsere Gefühle und Bedürfnisse benannt haben, richten wir eine möglichst spezifische Bitte an unser Gegenüber.
Diese sollte positiv formuliert sein, d.h. wir sollten ein bestimmtes Verhalten erbitten. Denn wenn wir nur formulieren, was das Gegenüber NICHT tun soll, dann weiß derjenige nicht, was er STATTDESSEN tun soll. Außerdem rufen negativ formulierte Bitten eher eine Abwehrhaltung hervor.
Auch mit unklaren Bitten, wie „bitte reiß dich doch wenigstens mal ein bisschen zusammen“, „sei lieb“ oder „seid doch bitte einfach mal friedlich miteinander“, wissen die Angesprochenen noch nicht, wie sie sich denn nun konkret verhalten sollen.
Um bei unserem Beispiel zu bleiben, könnten wir Anton bitten: „Kannst du bitte dein Fußballtrikot und die Stümpfe in den Wäschekorb und deine Schulhefte auf deinen eigenen Schreibtisch räumen?“
Wir sollten dabei eine Bitte nicht mit einer Forderung verwechseln. Wenn der andere davon ausgeht, dass er verurteilt oder bestraft wird, wenn er sich nicht wie gewünscht verhält, handelt es sich um eine Forderung. Dann bleibt ihm von Vornherein nur, mit Unterwerfung oder Rebellion zu reagieren, statt einfühlsam auf die Bitte einzugehen.
Je häufiger Anton, nachdem er einer Bitte nicht nachgekommen ist, von seinen Eltern verurteilt oder bestraft wurde, desto eher wird er auch diese Bitte als Forderung auffassen.
Entscheidend ist also, wie wir auf ein etwaiges „Nein, ich bin gerade dabei, meinen Comic zu lesen“ reagieren. Im Sinne einer gewaltfreien Kommunikation sollten wir darauf nicht mit Urteilen wie „du bist faul“ oder mit Strafen „dann sind die neuen Fußballschuhe gestrichen“ reagieren, sondern einfühlsam auf Antons Bedürfnisse eingehen.
Empathisch aufnehmen
Wir sind empathisch, wenn wir versuchen, die Erfahrungen anderer Menschen zu verstehen. Dazu müssen wir versuchen, all unsere vorgefertigten Meinungen und Urteile über diese Person abzulegen.
Sind wir empathisch, dann machen wir es nicht zu unserer Aufgabe, das „Problem“ des anderen aus der Welt zu schaffen. Stattdessen wollen wir ihn verstehen, indem wir versuchen, die vier Komponenten Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Bitte in uns aufzunehmen.
Wir können überprüfen, ob wir das Gesagte richtig verstanden haben, indem wir es in unseren eigenen Worten wiedergeben. Es ist vorteilhaft dies in Form einer Frage zu gestalten, die den Gesprächspartner zur Richtigstellung ermutigt.
„Anton, du hast meine Bitte gehört, bist davon aber genervt, weil du dich erstmal mit diesem Comic von deinem anstrengenden Schultag erholen möchtest – willst du, dass ich dich eine viertel Stunde in Ruhe lasse?“
Wenn sich Anton mit diesen Worten verstanden fühlt, besteht die Chance, dass er in seiner Anspannung und Abwehrhaltung nachlässt. Damit wird es wahrscheinlicher, dass er den mütterlichen Wunsch erfüllt.
Einsatzmöglichkeiten für die GFK in der Familie
Auf den Ansatz der GFK können wir zurückgreifen, sobald wir mit einem Familienmitglied in einen Konflikt geraten. Wir erhöhen dadurch die Chance, dass unsere Bedürfnisse erfüllt werden und wir erkennen, welche unbefriedigten Bedürfnisse das Verhalten des anderen antreiben.
Wir können die Methoden der GFK auch unseren streitenden Kinder vermitteln, indem wir sie dazu ermuntern, sich gegenseitig ihre Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Bitten mitzuteilen bzw. diese beim anderen wahrzunehmen.
Die Kinder (aber nicht nur sie!) können dabei lernen, auf ihre Gefühle und Bedürfnisse zu achten und lösungsorientiert darüber nachzudenken, womit sie tatsächlich ihre Lebensqualität steigern können. Auf der anderen Seite trainieren die GFK-Ansätze, sich in die Erfahrungswelten anderer einzufühlen.
Ausübung von Macht
Wenn Lars (4) gerade Lara (2) an den Haaren zieht, haben wir nicht die Zeit, vollständig auszudrücken, was wir gerade beobachten, fühlen, brauchen und erbitten. Dann kann es sinnvoll sein Macht auszuüben, um Lara zu schützen.
Die GFK empfiehlt, zwischen beschützender und bestrafender Macht zu unterscheiden.
Während der Einsatz beschützender Macht Verletzungen oder Ungerechtigkeiten verhindern soll, hat die bestrafende Macht das Ziel, Menschen für ihre Regelverletzungen leiden zu lassen.
Beschützende Macht wäre in diesem Beispiel, Lars Finger von Laras Haaren zu lösen und die beiden liebevoll aber bestimmt voneinander zu trennen.
Bestrafende Macht wäre es, Lars in eine Ecke zu stellen oder ihn zu tadeln „Wie kannst du nur so gemein sein. Du solltest dich schämen!“
Wenden wir Macht zu Schutzzwecken an, richten wir die Aufmerksamkeit auf das Leben oder die Rechte, die wir schützen wollen, ohne über das Verhalten einer Person zu urteilen.
Strafende Macht basiert dagegen darauf, dass ein Verhalten verurteilt, wird und zielt darauf ab, jemanden so lange leiden zu lassen, bis er seine Verfehlung erkennt und sich bessert.
In der Praxis können Strafen jedoch eine verstärkte Abwehrhaltung provozieren. Sie sind dann nicht geeignet, Einsicht herbeizuführen.
Selbst wenn wir es schaffen, ein Kind durch Androhung von Konsequenzen zu einer Verhaltensänderung zu bringen – soll es uns wirklich genügen, dass sich das Kind nur aus Angst vor Strafe dafür entscheidet? Besser wäre es allemal, das Kind würde sich aus freier Einsicht dafür entscheiden, etwa unserem Bedürfnis nach Ordnung entgegenzukommen.
Ein weiterer Nachteil der bestrafenden Machtausübung ist, dass das Kind so physische und psychische Gewalt als sozial akzeptables Verhalten zur Konfliktlösung kennenlernt. Das widerspricht den Werten, die die meisten Eltern gerne vermitteln möchten.
Gewaltfreie Kommunikation wird sicher nicht dazu führen, dass die Kinderzimmer aufgeräumter sind oder weniger Geschwisterstreit ausbricht. Aber sie kann die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern verbessern und ermöglicht, Konflikte auf Augenhöhe zu lösen.
Umsetzung
Die meisten von uns haben eine völlig andere Art vom Kommunikation verinnerlicht. Sich auf die hier vorgestellte Methode gewaltfreier Kommunikation umzustellen, fällt tatsächlich nicht leicht.
Wir können nicht erwarten, dass uns dies von heute auf morgen gelingt. Stattdessen sollten wir die Umstellung als einen längeren Prozess ansehen, wobei wir viel Geduld mit uns selbst brauchen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man in Alltagssituationen von den Anforderungen des GFK-Modells schlichtweg überfordert sein kann. Es fehlt dann einfach die Zeit, die vier Schritte zu erinnern, zu durchdenken und anzuwenden.
Sollte es dir auch so gehen, gib nicht gleich auf!
Der erste Schritt kann ja bereits darin bestehen, bestimmte Situationen im Nachhinein zu analysieren. Du kannst zum Beispiel erkennen, dass du durch Werturteile oder Vergleiche bei deinem Gegenüber eine – letztlich für dich ungünstige – aggressive Abwehrhaltung erzeugt hast. Du kannst dir weiter überlegen, wie du vielleicht besser im Sinne einer gewaltfreien Kommunikation hättest reagieren können.
Wenn du diese Übung oft genug wiederholst, wird es dir immer häufiger gelingen, GFK einzusetzen. Zunächst in Situationen, die dich emotional nicht allzu sehr belasten, später in immer schwierigeren, stressgeladenen Situationen.
Beginne mit kleinen Schritten, aber bleibe hartnäckig!
Konnte ich dir die GFK schmackhaft machen?
Lade dir hier meine Bonus-PDF zu diesem Artikel herunter.
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