Oft glauben wir, unsere Kinder wollten „uns provozieren“, „Ärger machen“, „uns manipulieren“ oder „unsere Grenzen testen“. Manchmal kommt es uns vielleicht so vor, als würden die Kinder den ganzen Tag danach trachten, uns das Leben schwer zu machen.
Sobald es uns aber gelingt, uns auf die Sichtweise unserer Kinder einzunehmen, können wir etwas anderes erkennen.
Kinder tun in jeder Situation das ihnen bestmögliche.
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Und zwar das bestmögliche, um ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Sie sorgen für sich selbst – so gut sie können. Sie spüren ihre Gefühle und Bedürfnisse und wählen die aus ihrer Sicht wirksamste Strategie, um sie zu erfüllen.
Hieraus mag ein Verhalten resultieren, das aus unserer Sicht tatsächlich wenig zielführend oder sozialverträglich ist. Aber die Absicht des Kindes ist und bleibt, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.
Egal ob das Kleinkind seine Spielkameradin beißt und alles Spielzeug an sich reißt, ob das Grundschulkind heimlich fernsieht oder der Jugendliche abends nicht zur vereinbarten Zeit zu Hause auftaucht: es ist immer das gleiche Prinzip am Werk.
Anzunehmen, das Kind handle gegen dich oder gegen eine dritte Person, würde dem nicht gerecht. Das Kind verfolgt nur konsequent seine eigenen Interessen.
Wie wollen wir auf diese Selbstfürsorge des Kindes reagieren?
Aus dieser Einsicht folgt eine schwierige Herausforderung für uns, da wir erkennen, dass das Kind nicht gut selbst beurteilen kann, was wirklich in seinem Interesse liegt.
Wenn wir nun die Bedürfnisse unserer Kinder ignorieren und nur einseitig durch Lob und Tadel die Einhaltung von Regeln durchsetzen, verliert das Kind irgendwann den Zugang zu sich selbst.
Denn es übernimmt mit der Zeit die von außen herangetragene Bewertung. Es empfindet dadurch die eigenen Gefühle und Bedürfnisse – bewusst oder unbewusst – als „falsch“ und „schlecht“. Dies kann dazu führen, dass das Kind sich bei seinen Entscheidungen zunehmend nur noch von den Erwartungen anderer leiten lässt.
Einerseits scheint für den Moment hierin eine passable Strategie zu liegen: Das Kind hat gelernt, zu „funktionieren“, wie es sich die Eltern, die Schule, die Gesellschaft usw. vorstellen.
Zwei Seiten einer Medaille
In der Akzeptanz, sein eigenes Verhalten ganz an den Erwartungen anderer auszurichten liegt – andererseits – aber eine große Schwäche, wenn wir später unser Leben als Erwachsene meistern müssen.
Dann passiert es, dass wir ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit mit uns herumtragen. Weil wir nicht auf unser Inneres hören, sondern uns verpflichtet fühlen, die an uns gerichteten, von anderen definierten Erwartungen zu erfüllen.
Unser Leben und unsere Beziehungen und auch wir selbst – alles fühlt sich dann irgendwie „falsch“ an. Vielleicht reagiert sogar unser Körper mit psychosomatischen Symptomen.
Wenn wir diese Problematik erkennen, können wir als Erwachsene lernen, wieder auf uns selbst zu hören, unser Leben auf unsere Bedürfnisse hin auszurichten und nach passenden Strategien zu suchen, die uns gut tun und gleichzeitig anderen nicht schaden.
Diesen Umweg können wir unseren Kindern ersparen.
Wir können sie von Anfang an dabei unterstützen, nach Strategien zu suchen, die ihre Bedürfnisse erfüllen, die Grenzen anderer jedoch nicht verletzen.
Dies gelingt uns nur, wenn wir uns empathisch auf das Kind einlassen. Wenn wir das hinter einem Verhalten liegende Bedürfnis erkennen, können wir zusammen mit dem Kind kreativ sein und nach alternativen Lösungen suchen.
Es gelingt nicht, wenn wir das Kind als „böse“ abstempeln und bestrafen.
Beispiel: Idas Gewalt gegen den kleinen Bruder Paul
Die 4-jährige Ida geht immer wieder aggressiv gegen ihren zweijährigen Bruder Paul vor. Sie schlägt, zieht an den Haaren, beißt, kratzt, beschimpft ihn und nimmt ihm die Spielsachen weg, die ihm wichtig sind.
Die Eltern reagieren darauf, indem sie Ida zurechtweisen, sie, um Paul zu schützen, aus dem Zimmer schicken und den erschrockenen, verletzten und verängstigten kleinen Paul umsorgen.
Die Eltern fragen sich, was sie tun können, um die Situation zu Hause zu entspannen.
Grundbedürfnis Bindung
Ein zentrales Bedürfnis eines jeden Kindes ist es, eine gute und innige Beziehung zu den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen herzustellen und zu erhalten.
Das ist in allen Kindern angelegt. Seit Urzeiten ist es wichtig, dass Kinder sich an jemanden binden, der sie zu beschützen vermag. Nur so konnten unsere Urahnen erwachsen werden, ohne vorher beispielsweise von einem Raubtier gefressen zu werden oder sonst einem permanent drohenden Angriff auf ihr Leben und ihre Gesundheit zum Opfer zu fallen.
Dieses Bedürfnis nach Bindung manifestiert sich in manchen Situationen als Kooperationswille. In anderen Situationen – und in dieser sieht sich unsere Ida – kann die gewählte Strategie darin bestehen, den kleinen Bruder zu drangsalieren, der in ihren Augen die elterliche Aufmerksamkeit zu sehr an sich bindet.
Natürlich wären in Idas Position unzählige andere Strategien denkbar, um ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Schutz und Zuwendung zu erfüllen. Wichtig ist, zu erkennen, dass das Bedürfnis als solches legitim ist – nicht aber die gewählte Strategie.
Aber: hier beginnt unsere Verantwortung als Eltern! Wir begleiten unsere Kinder in einem Prozess, in dem sie lernen müssen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, für deren Erfüllung aber sozialkonforme Strategien zu wählen.
Idas Eltern können versuchen, mit ihr zusammen kreativ zu überlegen, wie sie Idas Bedürfnis nach Bindung, Schutz und Kontrolle befriedigen können.
Oft ist es leider gar nicht so leicht, eine für alle Seiten befriedigende oder zumindest akzeptable Lösung zu finden. Idas störendes Verhalten lässt sich nicht einfach „abstellen“. In manchen Phasen der kindlichen Entwicklung bleibt uns Eltern nur, Konflikte und sozial unangepasstes Verhalten unserer Schützlinge zu ertragen.
Ganz sicher wird aber die verständnisvolle Haltung der Eltern Ida gegenüber die Eltern-Kind-Beziehung stärken und Ida auf ihrem Weg zu einem empathischen und selbstbewussten Erwachsenen unterstützen.
Weg vom Problem – hin zur Lösung
Wenn wir davon überzeugt sind, dass unser Kind sich immer so gut verhält, wie es ihm gerade möglich ist, sehen wir die Welt positiver und sind entspannter.
Idealerweise können wir uns in das Kind hineinfühlen und vermeiden Machtkämpfe. Die freigewordene Energie können wir nutzen, um zu versuchen, das Kind so zu unterstützen, dass es sich kooperativer verhalten kann.
Dein Kind möchte nicht sein morgendliches Spiel unterbrechen, um in den Kindergarten aufzubrechen? Wenn du nicht glaubst, dass es dich boykottieren möchte, sondern annimmst, dass es einfach gerne weiter sein Spiel genießen möchte, dann kommst du vielleicht mit kreativen Ideen weiter. Zum Beispiel damit, dein Kind mit einer Sanduhr auf den baldigen Aufbruch vorzubereiten und es dazu zu ermuntern, ein Spielzeug seiner Wahl auf den Weg mitzunehmen.
Oder ist dein Kind nach der Schule zu Hause furchtbar schlecht gelaunt, motzt dich an und setzt sich nicht wie vereinbart nach dem Mittagessen an seine Hausaufgaben? Wenn du nicht glaubst, dass es faul und streitsüchtig ist, erkennst du vielleicht, dass es sich nach dem anstrengenden Vormittag erst einmal entspannen muss. Es braucht möglicherweise einfach eine Pause, in der es sich aktiv körperlich betätigt oder einfach nur faulenzt. Vielleicht findet ihr mit dieser positiven Haltung gemeinsam eine Lösung?
Versuche, bei dir selbst anzufangen!
Nun bist du vielleicht motiviert, und nimmst dir vor, Konflikte besser zu verstehen und aufzulösen, indem du die Gefühle und Bedürfnisse deines Kindes ernster nimmst, um ihm helfen zu können, sozial verträgliche Strategien zu finden, um die eigenen Bedüfnisse zu erfüllen.
So lange du jedoch noch keine Klarheit über dich selbst – deine Gefühle, deine Bedürfnisse und die in diesem Sinne gewählten Strategien – gewonnen hast, kannst du dein Kind auch nur unzureichend unterstützen.
Versuche deshalb unbedingt auch, den Fokus auf dich zu richten. Werde dir darüber klar, was du willst und wie du handeln möchtest. Du musst lernen deine Bedürfnisse zu erfüllen, bevor du diese Kunst deinen Kinder lehrst.
Wenn du glaubst, genau dabei Unterstützung zu brauchen, möchtest du dich vielleicht auf die Warteliste meines Jahresprogramms "Bewusster leben als Mama" setzen. Ich würde mich freuen, dich beim nächsten Start dabei zu haben!
Außerdem empfehle ich dir den Ansatz der gewaltfreien Kommunikation. Diese lenkt den Fokus auf die Gefühle und Bedürfnisse und erleichtert euch ein empathischeres und damit friedlicheres Miteinander.
Sobald du die Verantwortung für dich übernommen hast und dafür Sorge trägst, dass es dir selbst gut geht ohne dabei andere zu verletzen, kannst du deinem Kind hierfür ein Vorbild sein.
Fazit: Dein Kind ist nicht böse – es muss noch lernen, wie es gut für sich selbst sorgen und gleichzeitig die Interessen anderer berücksichtigen kann. Du kannst es unterstützen, indem du dich just der gleichen Herausforderung stellst.
Das geht nicht von heute auf morgen. Es kann ein langer, beschwerlicher Weg mit Umwegen, Verwirrungen und Rückschritten werden – aber es wird sich lohnen, ihn zu gehen!
Wie geht es dir mit diesem Thema? Hast du schon einmal die Erfahrung gemacht, dass sich mit einer positiven Haltung Konflikte leichter lösen lassen? Ich freue mich über deinen Kommentar!
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das dir durch Reflexionsübungen hilft, wieder liebevoll die Führung zu übernehmen und so eine Positivspirale in Gang zu setzen.
Endlich mal eine wirklich sinnvolle Sicht auf die Dinge. Während des Lesens denkt man eigentlich schon: stimmt! Danke dafür. Manchmal kommt man in eine Spirale mit dem Kind, in die man nicht kommen sollte.
Danke, liebe Ruby!
Du bist klasse. Engel auf Erden. 😉
Danke kommt gerade recht! War so ein anstrengender Tag! ???
??
Danke, ja, manchmal ist es einfach anstrengend!!! Dann kann ein Perspektivenwechsel etwas lindern. Wünsche dir viel Kraft und der ganzen Familie alles Gute 🙂